Eine neue Legende über Freud?


John Willliam Waterhouse (1849-1917): Ulysses and the Sirens (1891) (Quelle: wikimedia)

 

Michele Lualdi

Die Geschichte von Freud und von der Psychoanalyse enthält viele Legenden. Es handelt sich um historisch falsche Nachrichten, die sich weit verbreiten haben. Sie werden weiter tradiert, obwohl sich die Beweise gegen sie nach und nach häufen.

Ich möchte nur drei Beispiele hier erwähnen, die ich selbst eingehend untersucht habe.

Das erste Beispiel (Lualdi, 2020) betrifft die vier Karten, die Freud im Herbst 1902 an den vier ursprünglichen Mitgliedern der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft (Rudolf Reitler, Wilhelm Stekel, Max Kahane e Alfred Adler) gesendet hätte. Im Lichte der Dokumente ist es wahrscheinlicher, dass Freud nur Adler schrieb, nachdem er sich mit den anderen Mitgliedern schon folgendes abgestimmt hatte, die Treffen nicht am Mittwoch-, sondern am Donnerstagabend zu halten. Aber die klassische Rekonstruktion, die sich bei der von E. Jones geschriebenen Freud- Biografie befindet, widersteht noch heute.

Das zweite Beispiel (Lualdi, 2021a) betrifft den Satz, den Freud im Juni 1938 in der Nazi-Erklärung geschrieben hätte, um Wien verlassen zu können: „Ich kann die Gestapo jedermann auf das Beste empfehlen“. Diese Fassung der Erklärung befindet sich wieder bei der von E. Jones geschriebenen Freud-Biografie und in fast allen folgenden Werken über Freud. Doch Jones’ Einseitigkeit ist offensichtlich: wir können das ursprüngliche Dokument ansehen und bemerken, dass es keinen Satz von Freud gibt!  

Endlich betrifft das dritte Beispiel (Lualdi, 2021b), die echte Person, die Freud die Novelle von Jensen, „Gradiva“ empfohlen hat. Jones schreibt Jung diese Rolle zu. Wie mehrere Autoren hervorgehoben haben, weist seine Darstellung einige logische Inkonsequenz auf. Ferner erlauben die Dokumente uns zu behaupten, dass es war Stekel, der Freud auf „Gradiva“ hinwies.

In diesen und ähnlichen Fällen ist es sehr schwer, eine detailliertere und wahrscheinlichere historische Rekonstruktion wiederzuherstellen. Angesichts unserer heutigen Situation, ist es zu einfach, sich auf die Metapher des Virus zu berufen, das man weder bezwingen noch bändigen kann, nachdem es sich verbreitet hat: sicher reicht es nicht, dass man einen Artikel in einer Fachzeitschrift veröffentlicht oder ein Posting wie dieses macht.

Aber vielleicht gelingt es uns, die übermäßige Verbreitung einer neuen Nachricht einzudämmen, für die es, meines Wissens, keine Beweise gibt. Mehrere Websites berichten nämlich, dass Freud 1881 Doktor der Medizin mit der Dissertation “Über das Rückenmark niederer Fischarten” geworden sei. Nachstehend werde ich ein Teilverzeichnis darüber liefern: einerseits geht es um Websites, die keine Quelle für diese Auskunft erwähnen; andererseits findet man unter ihnen keine der Geschichte der Psychoanalyse zuverlässig gewidmete Website, wie z. B. freud-edition.net oder psyalpha.net. Die erste Website ist gerade dabei Freuds Werke (mit besonderer Aufmerksamkeit auf seine Manuskripte) zu digitalisieren, und die zweite liefert eine reiche Bibliografie der psychoanalytischen undnicht-psychoanalytischen Werke von Freud.

Jenseits dieses Mangels an Quellen, besitzen wir einen bedeutenden Brief von Freud vom 18. März 1936. In diesem Brief antwortet Freud dem Schweizer Nervenarzt Rudolf Burn, der die Liste seiner neurologischen Werke und seine Dissertation fragte: „Dissertationen gab es damals nicht, ich glaube für den Mediziner überhaupt nicht“ (Lualdi, 2019). Könnte Freud seine Dissertation in einem Brief, in dem er seine neurologischen Werke erwähnt, vergessen haben?

Jedenfalls recherchierte ich weiter, um den Zustand zu erklären. Ich habe Christine Diercks (Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und Leiterin des freud-edition.net-Projekts), gefragt, ob sie etwas darüber wisse (persönliche Mitteilung vom 22. Dezember 2021). Sie bestätigte schnell meine Zweifel und erinnerte mich an das wertvolle “Freud-Diarium von Christfried Tögel, in dem man lesen kann: „1881 März 30 F. besteht sein 3. Rigorosum (Botanik, Biologie, Chemie)… und wird… zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert“. Keine Spur befindet sich von einer Dissertation!

Man muss sagen, dass Freud sich 1881 mit dem Rückenmark der Fische in zwei ausgezeichneten Aufsätzen schon beschäftigt hatte: „Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln im Rückenmarke von Ammocötes (Petromyzon Planeri)“ (Freud, 1877) und „Über Spinalganglien und Rückenmark des Petromyzon“ (Freud, 1878). Es handelt sich um keine Dissertation, aber wir könnten vielleicht hier den Ursprung dieser neuen Nachricht finden, die wie eine Legende aussieht. Es wäre sehr interessant, seine Entstehung zu studieren. Jedenfalls hoffe ich, dass wir die „Ansteckung“ noch bändigen können, bevor sie sich auch über die Fachliteratur verbreitet und nach und nach überzeugender (aber immer noch ohne Beweise) wird.  

Aber wenn jemand einige Hinweise zugunsten der Freud‘sche Dissertation hat, hoffe ich, dass er sie teilt, um eine Lösung auf dieser Frage zu finden.

 

Einige Website, die die Nachricht der Dissertation berichtet

Im Nachfolgenden gibt es einige Suchergebnis, das man erhält, wenn man den Titel der Dissertation von Freud mit Google sucht. Wie man es sehen kann, ist eine Quelle für die Auskunft nie erwähnt:

         spiegel.de

-        focus.de

-        tagesspiegel.de

-        biologie-schule.de

-        wien.info

-        austria-forum.org

-        nl.wikipedia.org

-        Würzburger Universität (PDF)

-        Ecc…

 

Literaturverzeichnis

Freud S., Über den Ursprung der hinteren Nervenwurzeln im Rückenmarke von Ammocötes(Petromyzon Planeri). In: Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien (Math.-Naturwiss. Kl.), 3. Abt., Bd. 75 (1877), S. 15-27.

Freud S., ÜberSpinalganglien und Rückenmark des Petromyzon. In: Sitzungsber. Akad. Wiss. Wien (Math.-Naturwiss. Kl.), 3. Abt., Bd. 78 (1878), S. 81-167.

Lualdi M. (2019), Freud, a quarant’anni dai suoi scritti di neurologia.

Lualdi M. (2020), Freud ad Adler: una traccia superstite dell’origine del movimento psicoanalitico.

Lualdi M. (2021a), Freud e la Gestapo.

Lualdi M. (2021b), È davvero Jung alleorigini de “Il delirio e i sogni nella ‘Gradiva’ di Wilhelm Jensen” di Freud?

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